Javier Téllez
Caligari und der Schlafwandler
February 14 – March 21, 2009
Wir freuen uns, mit Javier Téllez’ neuem Film Caligari und der Schlafwandler bereits die zweite Ausstellung des 1969 in Valencia, Venezuela, geborenen Künstlers in unserer Galerie zu zeigen. Der Film ist für die Ausstellung Rational / Irrational (08.11.08-11.01.09) als Co-Produktion des Haus’ der Kulturen der Welt, Berlin (HKW), und der Galerien Peter Kilchmann, ArratiaBeer und der Figge von Rosen Galerie entstanden. Drehorte waren – neben dem Kinosaal des HKW und dem Garten des Neuköllner Vivantes Klinikums – der legendäre Einsteinturm von Erich Mendelsohn in Potsdam. Wie bei fast allen seiner Filme arbeitete Téllez auch in seiner neuesten Arbeit mit filmischem Personal, das im wirklichen Leben am Rande der Gesellschaft steht und das er – in diesem Fall – unter den Patienten der psychiatrischen Abteilung der Vivantes Klinik nach sorgfältigen Casting-Sitzungen rekrutierte. Im Dialog mit seinen Laienschauspielern erarbeitete Téllez mit Caligari und der Schlafwandler eine filmische Referenz auf den berühmten Stummfilmklassiker Das Kabinett des Dr. Caligari von Robert Wiene (1920), der als erster Horrorfilm und als Meilenstein des expressionistischen Films bekannt wurde – genauso wie der Einsteinturm (1919-22) als ein herausragendes Beispiel expressionistischer Architektur gilt. In einem Satz gesagt hat Téllez also zeitgenössische Artefakte der frühen zwanziger Jahre in seinem neuen Film in Beziehung gesetzt und sie zugleich als Hintergrund für eine mehrschichtige Untersuchung der Frage nach der Normalität genutzt.
Caligari und der Schlafwandler ist eine filmische Collage aus inszenierten Dialogen und dokumentarischen Interviews mit Patienten der Berliner Vivantes Klinik. Die hieraus entstehenden Zweifel an den Realitätsebenen, die auch das Grundthema des Originals sind, greift Téllez systematisch auf und verstärkt sie noch, indem er etwa als Prolog einen Mann (den Schauspieler-Patienten Eckehard Ide), eine Passage aus Jean Genets Die Neger vortragen läßt und damit schon eine signifikante Distanz auf zwei Ebenen schafft: die Distanz die der zitierte Text selbst schafft, wie auch allein die Tatsache, daß überhaupt ein fremder Text zitiert und für das neue Stück, den neuen Film eingesetzt wird. Hier, wie auch in den folgenden Bildern geht es in immer neuen Variationen um Distanz, Wahrnehmung und Kategorien – wer bin ich, wie sehe ich mich und die Welt, wie sieht die Welt mich, was ist normal und mit welchen Medikamenten werde ich zu einer Annäherung an einen “normalen” Zustand gebracht.
Die stark verfremdende Ver- und Bearbeitung von solchen Artefakten, die unserem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben sind, nutzt Téllez als Folie vor der der filmische Diskurs um das Anders-Sein seiner schauspielenden Protagonisten an Prägnanz gewinnt. Ihr Anders-Sein (wir sprechen distanzierend von “sie” und “ihnen”), aber auch ihr wie-wir-Sein wird durch das Abweichen von der bekannten Vorlage sehr deutlich. Beispielsweise läßt er Cesare (der Schauspieler-Patient Henry Buttenberg), der dem Jahrmarktpublikum durch Dr. Caligari (der Schauspieler-Patient Hanki) als wundersamer Schlafwandler vom Sklavenstern vorgeführt wird, mit Hilfe einer beschriebenen Schiefertafel mitteilen, daß “Der ganze Stern eine Psychiatrie [ist]”, daß also – wie sich interpretieren läßt – diejenigen, die aus unserer Gesellschaft herausfallen, letztlich nur Teile eines großen, ganzen Wahngebildes sind. Doch Téllez verweist durch seine Bilder nicht allein auf die Wirklichkeit der Patienten, sondern er läßt sie eingebunden in die verschiedenen Ebenen des Filmes auch selbst zu Wort kommen. Etwa, wenn auf der Fiktionsebene des Filmes Caligari in seinem Kabinett im Einsteinturm Cesare Fragen stellt, die von einem Psychiater stammen könnten und die immer um dessen Identität und den Zustand des Patienten, sein Sein in der Welt, kreisen. Oder, wenn Hanki – als er und Cesare den Einsteinturm hinaufsteigen – die Rolle des Caligari aufgibt , und erklärt, daß er durch “Tausend Fragen tausend Antworten” Angst bekommt und daß sich seine Psychose so bemerkbar mache, “daß ich dann in einem anderen Film bin.” Genau das, in einem anderen Film zu sein, arbeitet Téllez in vielen seiner Werke mit seinen Schauspieler-Patienten durch: Zu seiner künstlerischen Vorgehensweise hat Téllez, konkret in Bezug auf seinen Film Choreutics von 2001 erklärt, daß “die Arbeit […] als Metapher gemeint [ist]: ich wollte eine periphere und unsichtbare Situation in das Zentrum bringen […] und dabei im Raum zwischen Zentrum und Peripherie agieren.” (©Interview, Übersetzung, Porträtfoto: Gerhard Haupt & Pat Binder, 2001).
In Téllez’ Œuvre paart sich, wie wir abschließend festhalten wollen, zweierlei: zum einen seine Empathie mit und sein Interesse an Menschen, die im Rahmen unserer Gesellschaften als krank definiert und entsprechend medikamentös und therapeutisch behandelt werden. Er gibt diesen Menschen eine Stimme, bzw. ermöglicht ihnen, ihren Alltagstrott, der durch das sedieren mit Medikamenten geprägt ist, zu durchbrechen und sich auf ihre ganz spezifische, selbstbewußte Art und Weise zu äußern. Zum anderen hat Téllez, wie zahlreiche Beispiele belegen können, ein großes Interesse an klassischen Stücken / Filmen, bei denen genau dies geschieht: ein Durcheinanderwirbeln von Realitätsebenen (was ist Wirklichkeit, was Vorstellung, was ist Wahrnehmung und was sind Fakten), ein Auseinandersetzen mit den Kategorien gesund / krank, normal / unnormal etc. Daß er sich auf historisch bedeutsame Werke, gerade auch des Films, bezieht, hat Methode. Besonders hervorzuheben bleibt hier allerdings, daß auch die Vorbilder um die Themen des Wahns und seiner Wahrnehmung, um Ebenen von Wirklichkeit und um Fragen der Willensfreiheit, des Schicksals und der Determination kreisen.
Die Präsentation von Caligari und der Schlafwandler wird durch einige Installationen ergänzt, die aus Filmprojektoren und Figurinen bestehen und sich mit der Phrase “Cinema without Film” fassen lassen. Diese Arbeiten stehen mit der Infragestellung von Wirklichkeit und Kategorie, wie sie in dem Film zu konstatieren ist, insofern in Zusammenhang, als die Installation jeweils aus dem Projektor, der Figurine und dem Bild, das die Figurine auf die Wand wirft, besteht. Wie bei Platons Höhlengleichnis ist bei diesen Werken nicht mehr klar, ob das Werk letztlich nur in dem Bild auf der Wand zu sehen ist oder ob die schattenwerfende Figurine oder sogar auch die Lichtquelle Teil der eigentlichen Arbeit sind – die Kategorien von Bild, Film und Skulptur sind also durchbrochen.
Javier Téllez stellte in 2008 – neben der Ausstellung Rational / Irrational im Haus der Kulturen der Welt, Berlin – u.a. auf der 16th Biennale of Sydney, in der Whitney Biennial in New York sowie auf der Manifesta 7 in Trentino-Südtirol aus. Demnächst werden weitere Arbeiten von ihm in Berlin in der Ausstellung Islands & Ghettos in der NGBK und in Téllez erster institutioneller Einzelausstellung im Kunstverein Braunschweig (18. April bis 14. Juni 2009) sowie in der Kunsthaus Baselland (18. April bis 28. Juni 2009) zu sehen sein.
We are happy to show with Javier Téllez’ new video Caligari and the Sleepwalker the second exhibition of the artist (born 1969 in Valencia, Venezuela) in our gallery. The film has been coproduced for the exhibition Rational / Irrational (Nov 08, 2008-Jan 11, 2009) by the Haus der Kulturen der Welt, Berlin (HKW), and the galleries Peter Kilchmann, ArratiaBeer and Figge von Rosen. One of the locations for the film was – besides the cinema of the HKW and the garden of the Vivantes Klinikum in Neukölln, Berlin – the legendary Einsteintower by Erich Mendelsohn in Potsdam. Téllez worked, like he did for most of his films, also in this case with personnel that stands at the margins of our society and that he had recruited – in this particular case – in the psychiatric department of the Vivantes Klinik after intensive casting-sessions. Téllez created – in a dialogue with his lay-actors – with Caligari and the Sleepwalker a filmic reference to the famous silent movie Das Kabinett des Dr. Caligari by Robert Wiene (1920), a film-classic, known for being the first horrorfilm and as a milestone of expressionistic films in general – comparable to the Einsteintower (1919-22), that is considered an outstanding example of expressionistic architecture. In one sentence: Téllez related contemporary artifacts of the early 20ies in his new film and he used them as background for the multilayered research into “normality”.
Caligari and the Sleepwalker is a filmic collage of staged dialogues and documentary interviews with patients of the Berlin Vivantes Klinik. This brings doubts about the possible levels of reality that are also the basic topic of the original film. Téllez strengthens these doubts systematically: for instance, he creates a prologue in which a man (the actor-patient Eckehard Ide) declaims a paragraph of Jean Genets play The Blacks. This causes a significant distance on two levels: the distance that is caused by the cited text itself and the distance caused by the citation of a third text in the new film. Here, like in the following scenes a plethora of variations about distance, perception and categories is created: who am I, how do I see me and the world and how does the world see me, what is normal and with what kind of medication am I supposed to approach a state of “normality”.
Téllez uses the heavy distorting treatment and editing of such artifacts, that are inscribed in our cultural memory, as a screen that helpes the filmic discourse on the fact, that his acting protagonists are different, to gain conciseness. Their being-different (we talk about “they” and “them” in a distanced manner – instead of talking about “we” and “us”), but also their being similar to us, is strengthened through diverging from the known original master. For instance, Téllez makes declare Cesare (the actor-patient Henry Buttenberg), who is presented to the audience of an annual fair by Dr. Caligari (the actor-patient Hanki) as a curious sleepwalker from the Slave Star, he makes him declare – by writing on a blackboard – that “The whole Star is a psychiatric hospital”, in other words, that the people who drop out of our society are, in the end, only part of a large phantom. But Téllez refers in his scenes not only to the reality of the patients, but he lets them talk and explain themselves on different levels of the film. For instance, Caligari – as a personnel of the film, not as Hanki, the actor – poses questions to Cesare in his bureau in the Einsteintower, questions that could be asked by a psychiatrist and that all circle around Cesare’s identity and his state of the mind or his existence within society. Another example: Hanki and Cesare climb the Einsteintower and Hanki abandones his role as Caligari and talks about his psychosis: he explains that he is moved by “thousands of questions” and “thousands of answers” and that he – consequently – becomes afraid. He knows that he is having a psychotic episode when he feels to be “in a different film” Exactly this, the phenomenon of being in different film, is, what Téllez works on in many of his works with his actor-patients: he commented on this artistic strategy with direct reference to his film Choreutics of 2001 and explained, that “the work […] is meant to be a metaphor in another sense, too: I wanted to bring a peripheral and invisible situation into the center […] and thereby operate in the space between center and periphery.” (©Interview, Übersetzung, Porträtfoto: Gerhard Haupt & Pat Binder, 2001).
To come to an end: Téllez’ œuvre combines two things: on the one side he has a great empathy with and an interest in human beings that are defined / categorized as being sick and that are treated with medication and therapeutic sessions. He gives these people a voice, respectively allows them to brake out of their daily routine, which is dominated by tranquilizing medication, and to express themselves in a specific, self-conscious way. On the other side, Téllez is, which could be proofed with many examples, highly interested in classical plays and films that show exactly this: stirred levels of reality (what is reality, what is imagination, what is perception, and what are facts), and argumenting with the categories sane / sick, normal / abnormal, etc. In working on these topics, he methodically uses historically significant pieces, especially from the history of the cinema. It remains to be underlined, that not only his own works, but also these examples circle around topics like delusion and its perception, or levels of reality and the questioning of free will, of fate and determination.
The presentation of Caligari and the Sleepwalker will be complemented by a few installations that consist (technically) of film projectors and figurines and that can be subsumed with the phrase “Cinema without Film”. These works are related to the questioning of reality and categories that can be seen in the film, because each installation consists (concept-wise) of the projector, the figurine and the image that is thrown by the figurine on the wall. Like in Plato’s parable of the cave, in these installations it is not clear where the artwork as such is situated: is it the image on the wall or is it the figurine that casts the shadow, or is it also the projector and its source of light? The categories of image, film and sculpture are mixed-up.
Javier Téllez exhibited in 2008 – besides the exhibition Rational / Irrational in the Haus der Kulturen der Welt, Berlin –amongst other shows at the 16th Biennale of Sidney, at the Whitney Biennial in New York as well as at the Manifesta 7 in Trentino-South Tirol. In the near future more works will be seen in Berlin in the exhibition Islands & Ghettos in the NGBK and in Téllez first institutional singlel-exhibition in the Kunstverein Braunschweig (April 18-June 14, 2009) as well as in the Kunsthaus Baselland (April 18-June 28, 2009).